Ein Tag in Reichenau an der Rax
NAIP meets ISA 2016 – was steckt dahinter? Die Sucher neuer Bühnen und innovativer Musizierpraxen treffen auf Meisterklassenbesucher auf Weltklassenniveau ODER Masterstudierende NAIP vor allem aus den nordischen Ländern treffen auf Bachelor und Masterstudierende Konzertfach von der ganzen Welt, vor allem Asien.
Motto der Zusammenkunft: Drama
Rahmen hier: Zwei intensive Wochen, in denen sich der frische Studiengang NAIP kennenlernt und miteinander gleich voll ins Tun kommt – und dabei die lokale Gegend aufmischt (diesmal: Reichenau/Rax mitten im ISA Geschehen).
Rahmen dort: von den Meistern ihres Faches soviel wie möglich und so intensiv, wie im Studienjahr meist nicht möglich, profitieren. Vielleicht das Glück haben, eine Kammermusikformation für sich zu finden, die einen beflügelt, vielleicht auch das Glück erleben, einen der vielen Preise zu gewinnen, möglicherweise zu den Auserwählten gehörten, die mit den Professoren gemeinsam Konzerte spielen dürfen…
- August 2016
9:30 Ankunft beim Flacklwirt – dem pulsierenden, nie schlafenden Herz dieses Sommers: die Sonne scheint jetzt schon sehr heiß herunter, die grünen Wälder und imposanten Berge rundherum um Reichenau laden ein zum Wandern – tatsächlich wird später an dem Tag für die NAIPler eine Wanderung stattfinden, eine zweistündige Bergbesteigung mit anschließender Einkehr für eine „Brettljause“ in der Hütte – die Norweger, Finnländer, Isländer werden kurz vor der Abendsession herunterkommen, gelöst und fröhlich, das neu erworbene Wort Brettljause auf den Lippen….
Gleich am Parkplatz treffe ich eine der KollegInnen aus einer der vielen NAIP-Working- Groups, die sich um die strategische und inhatliche Entwicklung von NAIP bemüht haben. Ich und meine Kollegin gehörten ein Jahr lang der Gruppe „Research in NAIP“, unsere Arbeit wird demnächst auf der NAIP Homepage zu finden sein.
Ich erfahre, dass die Studierenden nach ihrem täglichen Warm-Up bereits ins Altersheim aufgebrochen sind, wo Tag 2 eines Projektes mit Senioren, Volkschulkindern und den Studierenden von NAIP stattfindet. Bevor meine norwegische Kollegin und ich uns auch dorthin begeben, plaudern wir mit zwei weiteren Verantwortlichen von NAIP und hören, dass alles sehr dicht ist, aber gut läuft und dass es vor allem immer sehr sehr viel zu organisieren gibt. Die beiden machen einen zufriedenen Eindruck. Zugleich ist das gleichfolgende „strategic meeting“ des NAIP Staffs sehr dringend. Viel Zeit zum Plaudern ist nie, erfahre ich, aber es sei „beautifully intense“
10:00 Ankunft Altersheim – das gemeinsame Warm-up aller Beteiligten ist voll im Gange – ein Riesenkreis aus etwa 50 Personen, Sessel und Tische sind zur Seite geschoben und aufeinandergestapelt, am Rand außerhalb des „Action-Kreises“ sitzen weitere etwa 10-15 Personen. Im Kreis sind etwa 20 Kinder, 15 Students, 10 Senioren und 3-4 Lehrer bzw. NAIP Staff. Die Kapazität des riesigen, hellen Raumes, der durch das Öffnen der Schiebetür sein möglichstes Maß bereits erreicht hat, ist maximal ausgenutzt.
Eine Studentin bewegt sich mitten im Kreis und leitet das Summen, das rhythmische Bewegen, die body-percussion-moves an, die Kinder lachen über ihre ganzen Gesichter, die Senioren versuchen etwas von den vielen Anknüpfungspunkten zu erwischen – in ihren eigenen Rhythmen klatschen sie konzentriert zum Lied mit, eine dunkelhäutige Frau filmt alles mit professioneller Ausstattung mit. Alles in allem ein ungewöhnlicher Eindruck/Anblick mitten in einem typischen, mit hellen Möbeln und pastellenen Tönen ausgestatteten Seniorenheim-Ambiente. Ist hier öfters so viel los? Ich stelle mich auf die Seite und abwechselnd mitsummend und leise plaudernd und Menschen begrüßend, nehme ich in einem großen, etwas dunklen Eck des Raumes eine ungewöhnliche Ansammlung an Gegenständen wahr: vom Fahrradhelm, über wunderbar bunte Häkelware bis zu altem gußeisenen Werkzeug, ziehen diverse Gegenstände die Aufmerksamkeit auf sich. Man möchte Dinge streicheln, anfassen, ausprobieren…
Ich erfahre über das NAIP meets ISA –Drama, dass es entsprechend dramatisch läuft: aber positiv dramatisch, zur absoluten Zufriedenheit Aller, auf die Kosten vieler Nächte einiger der besonders intensiv Beteiligten, wozu ganz bestimmt der gesamte NAIP-Staff gehört: sie müssen Probleme regeln, als Chauffeure Harfen, Studenten und allerlei Menschen und Dinge hin- und hertransportieren, aber auch an allen Ecken und Enden Wogen glätten, wo vor lauter Intensität der Überdruck droht, die Nerven in der Gemeinde beruhigen – aber nicht, weil etwas NICHT läuft, sondern weil es super läuft – NAIP breitet sich im Affentempo über das ursprünglich Geplante hinaus, überall hin kommen und machen mehr Menschen mit als erwartet – der NAIP Virus verbreitet sich in Reichenau schneller, als die Organisatoren nachkommen können. Die Hauswarte müssen hier und da nicht nur ein Auge zudrücken, wenn spät nachts die Freude am Miteinander musizieren und miteinander sein noch immer nicht zur Ruhe kommen mag…
Während des freudig aufgeregten Flüster-Berichts wird auch das Singen im Kreis immer leiser – der Kreis gruppiert sich jetzt in eine imaginäre Bühne um: auf der Bühne steht nun eine Schülergruppe, drei Mädchen zeigen ein selbstgemaltes großes Bild (wann haben sie es gemalt? Wer weiß wie lange Vorlaufzeit das Projekt eigentlich hatte??) und führen uns live das kleine Stück vor: eine Szene aus dem Leben von Brigitte, die stets so viel und hart arbeiten musste, und deren Gebet aber eines Tages tatsächlich von Gott erhört wird: eines Nachts kommt eine gute Fee, die die Arbeit von Brigitte erledigt… Brigitte wird diese Tat nie vergessen….
Die etwa 9jährigen Mädchen spielen alles sehr selbstbewusst und erzählen auch im Nachhinein mit fester Stimme, wie sie auf die Idee gekommen sind. Wir erfahren, dass sie eine bestimmte Szene aus dem Leben von einer Seniorin nachspielten – der Brigitte – die diese Episode aus ihrem Leben ihnen erzählt hat. Eines der Mädchen erzählt, dass auch sie sehr oft waschen bzw. abwaschen muss, und daher konnte sie die damals junge Brigitte sehr gut verstehen, dass sie sich Erlösung gewünscht hat.
Mit dem Betreten der „Bühne“ (Erwachsene und Studenten setzen sich am Rand auf die Sessel und alle Schulkinder setzen sich in die Mitte auf den Boden) wechselt die Führung von der aktiven Studentin zu einem der NAIP Leiter. Er teilt die Gruppe in drei Teile – offenbar waren es tags zuvor noch 6 Gruppen, nun tun sich je zwei zusammen zu einer größeren Arbeitsgruppe. Jede der Gruppen geht jetzt in einen eigenen Raum.
Ich bleibe im Hauptraum und werde Zeugin der Geschichte von Franz und seiner Vertonung und Verbildlichung – hier arbeiten alle gemeinsam: Studierende aus Österreich, Island, Finnland und Norwegen, gemeinsam mit den NAIP Lehrern – hier sind zwei anwesend und vor allem viele Kinder. Diese haben auch schon tags zuvor Bilder zu Franzens Geschichte gemalt, die Bilder werden in der Mitte ausgerollt, Teile der Geschichte von Franz werden anhand des Bildes erzählt, wieder erinnert, dazwischen wird auch immer Franz direkt nach den Details gefragt, vor allem aber nach seinem Gefühl zu dieser oder jener Situation.
Wir erfahren, dass er gerne Fahrrad fährt und in die Berge wandern geht, dass er schon sehr jung ein richtiges Handwerk gelernt hat (Spengler), dass er Kinder und Enkelkinder hat und dass er seinen Vater als Kind erst mit 10 Jahren kennengelernt hat.
Die Studierenden fragen den Franz immer wieder nach dem Gefühl, wie es war, dem Vater dann plötzlich erst kennenzulernen. Für Franz war es alltäglich, es war damals so, es war „normal“… irgendwann erfahren wir aber doch ein bisschen mehr über die Begegnung, jedoch spürt man deutlich, dass Franz viel lieber von den Bergen, dem Wald und dem Erschaffen seiner Gießkanne erzählen mag. Die Studenten hingegen hören viel lieber über Gefühle – wir werden in der Pause darüber sprechen – ist es das Ziel, dem Franz seine Emotionen näher zu bringen, in vielleicht verdrängte oder vergessene Ecken seiner Geschichten hineinzuleuchten? Oder suchen die Studenten nach Gefühlen, weil sie darauf leichter Zugang zu der ganz besonderen Musik und Stimmung bekommen, die sie in dem Moment entstehen lassen (wollen). Oder ist der Sinn, mithilfe von Bildern und Musik ein Teil der Geschichte eines anderen Menschen zu teilen und mit ihm zu erleben? Geht‘s hier also um Franz oder geht‘s um uns alle? Und Franz öffnet unsere Herzen dadurch, dass er seines öffnet…
Emotionen
Derweil sich alle Studenten und Kinder im Kreis eifrig und sehr aktiv auf das Finden des nächsten passenden Geräusches konzentrieren (Wie klingt Wind? Wie klingt „Glück beim Fahrradfahren“? Wie klingt stolz?) sucht Franz in den vielen Taschen seiner hellen Wanderhose ein Stofftaschentuch. Er führt es zu seinen Augen…
Englische Übersetzung
Alles was gesagt wird, wird auf Deutsch und Englisch gesagt – es sitzen aber auch Kinder im Kreis, denen diese Sprachen nicht viel sagen – im Laufe des Tages wird es klar, dass das Kinder aus Afghanistan sind, die mit ihren Familien im Flüchtlingslager hoch in den Bergen über Payerbach leben.
Die Studierenden und die Leiter achten darauf, dass auch diese Kinder mitmachen können, zwei von ihnen, es scheint, es sind die Schüchternsten, dürfen später „Dirigent und Dirigentin“ spielen/sein – man sieht, es ist für sie ganz neu, sie sind sehr konzentriert. Was für eine Aufgabe – 15 anderen, meist „fremden“, darunter einigen erwachsenen Menschen zeigen, was sie zu tun haben, sie auf sich hören lassen. Die meisten Kinder hier sind erst 9 Jahre alt. Ein Mädchen, sie heißt Joy, haucht ihre frisch gelernten ersten Töne in die Flöte – welch Glück, dass sie neben einer Flötenstudentin sitzt, die ihr beim Erkunden der Möglichkeiten auf der Flöte stets sehr aufmerksam zur Seite steht – den Kontakt mit dem großen Kreis nie aus den Augen lassend. Die hauchigen Windgeräusche passen fabelhaft zu der Gesichte von Franz!
Ein anderer Junge zieht sogar eine eigene kleine Panflöte aus der Hose um zu helfen, den Wald zum Klingen zu bringen. Mit Eifer, Ideen, und Einsatz sind alle Kinder dabei.
Einer der NAIP Lehrer übernimmt bald die Führung, hockt sich vor ein riesiges weißes Blatt Papier in die Mitte des tönenden Kreises und zeichnet Symbole in die lautmalerische Partitur – jenseits aller Sprachen, mit einem Blick aufs Papier wird es klar, in welchem Teil der Geschichte wir gerade sind.
Franz hält noch immer die Gießkanne fest in seiner Hand. Immer wieder probiert er der Gießkanne durch Hineinblasen, Draufklopfen, Kratzen und Streicheln der Kanne Töne zu entlocken.
In das Lied „das Wandern ist des Müllers Lust“, das als Idee eingeworfen wird, den Franz beim Wandern durch den Wald und auf die Berge zu zeigen, stimmen alle im Raum Anwesenden mit ein: die AltenpflegerInnen, die langsam im Hintergrund fürs Mittagessen richten, einige SeniorInnen, die einfach bei der Session zuhören und zuschauen wollten, weitere Frauen im Raum – vielleicht Lehrerinnen der Kinder? Vielleicht Mütter? Großmütter?
Nach dieser Vormittagssessions wird Franz gerührt und verwundert zu mir sagen (ich stehe im dunklen Eck bei den Gegenständen), dass er nie gedacht hätte, dass die Gießkanne auch zum Klingen geeignet ist. Und dass die Gießkanne heute viel Ehre erfahren hat – genau wie das seine Eltern damals zu ihm gesagt haben – er solle sie sein Leben lang in Ehren halten. Mit den Worten „die Gießkanne hat schon viele Veränderungen mit mir überstanden. Sie ist immer mit dabei.“ verabschiedet er sich nachdenklich in die Mittagspause – die Gießkanne noch immer innig an sich drückend.
Teil 2 des ISA meets NAIP-Dramas 2016
Besuch im Flüchtlingsheim in Payerbach
23.August 2016
Vorbereiten
Nach dem Essen schließen meine NAIP-Forscherkollegin aus Oslo und ich uns einer Gruppe an, die zum Flüchtlingsheim des Ortes fährt – wie jeden Nachmittag. Eine DOC –Studentin aus dem Iran, die auch farsi kann, die Sprache der dort oben am Berg in Peyerbach untergebrachten Flüchtlinge und einer der Lehrenden vom NAIP Team besuchen das Heim beinah täglich seit Beginn des Projektes. Ich werde später erfahren wie besonders dieser Besuch ist – nicht nur, weil da Menschen miteinander kraft der Musik in Verbindung kommen: Dass überhaupt irgendjemand „Fremdes“ „von Außen“ die dort oben auf den Berg untergebrachten afghanischen Familien besucht, kommt sehr selten vor. Das Heim ist kaum erreichbar – zu Fuß sind es etwa 2-3 Stunden die man hinaufwandern muss, ja wirklich wandern – so ist der Weg hierher ursprünglich gedacht gewesen, denn windet man sich hinauf, eröffnet sich oben ein fantastisches, atemberaubendes Panorama über die dortigen Bergspitzen und Wälder. Aber auch der steile Anstieg und die weite Entfernung vom Dorfkern rauben einem bereits den Atem. Einen Bus gibt es auch nicht, und so kommt tatsächlich so gut wie niemand hier rauf. Es muss mal anders gewesen sein, davon zeugt die Größe des heruntergewirtschafteten, ehemals herrschaftlichen Gasthauses von damals, das jetzt, auf seine sichtbar alten Tage als Flüchtlingsheim dient.
Mit zwei großen Autos erobern wir die Höhe, wir: einige NAIP Studierende, drei Lehrende und wir zwei BeobachterInnen, wobei auch wir nur dann mitkommen konnten, wenn wir unsere Instrumente mitnehmen und ebenfalls mitmachen. Mit nur „im Eck sitzen und geheimnisvolle Notizen machen“ haben die NAIP-Verantwortlichen keine guten Erfahrungen gemacht, oder vielleicht nur kein gutes Gefühl. Wenn wir mitkommen dann um Menschen zu begegnen, mit Musik.
Ja, das passt, das passt auch für uns selbst viel besser so – wir stellen fest, dass wir noch nie vorher Flüchtlingen wirklich begegnet sind, im Auto reden wir viel über die Parallelwelt in der wir vermuten, die Flüchtlinge leben – oder sind es wir, die eine neue Wirklichkeit bisher so erfolgreich und eigentlich ohne jede bewusste Anstrengung verdrängen konnten?
Die Studentin, die in unserem Auto sitzt, fragen wir, wie sie darauf hier vorbereitet wurden – man soll nicht fotografieren.. und sie wurden auch musikalisch angeleitet, sie haben sich über die Stücke, die sie mitnehmen und den Menschen dort vorspielen möchten, untereinander kurz verständigt. Aber viel Zeit für Austausch ist nicht, insgesamt nicht – es passiert soviel, jeden Tag, jede Minute, für die NAIP Studenten, seit sie an der Rax angekommen sind: Sie sind, sagt die Geigenstudentin aus Island, im Erlebens- und Erfahrungsmodus, die Reflexion ist noch Privatsache – so schreibt sie auch tatsächlich viel in ihr NAIP Tagebuch rein, aber nicht soviel, wie sie eigentlich empfindet. Sie hofft, dass es dafür nach den Projekten doch noch Raum geben wird, all das aufzuarbeiten, was da ständig passiert.
Ankommen
Für das Flüchtlingsprojekt konnten sich die Studierenden freiwillig melden und es fahren jeden Tag andere mit, weil das Interesse groß war und natürlich nicht alle auf einmal mitkommen konnten. Dem Leading-Team sei dabei ganz wichtig gewesen, dass eine gewisse Beständigkeit beim Besuch der Menschen am Berg gegeben ist – und so wurden über die Tage bereits einige Rituale entwickelt. Wenn wir ankommen, merkt man sofort, dass einige im Team bereits Vertrauen aufbauen konnten zu einigen der Flüchtlingsheimbewohner. Es begrüßen uns zwei, drei junge Männer, mit Kindern am Arm oder hinter den Beinen versteckt. Zwei etwa 11jährige Jungs scheinen sich auch sofort mit uns wohlzufühlen – achja, die gehen seit einigen Monaten in die Schule und können schon ziemlich gut deutsch – etwas – eindeutig ein Vorteil – der allen Erwachsenen hier im Heim fehlt, wie wir im Laufe des Nachmittags noch erfahren werden.
Wir werden in eine Art Aufenthaltsraum geführt, der von schäbigster Ausstattung ist – kein einziger Sessel ist heil, die Stoffbezüge auf den Bänken und Sofas sind zerrissen und es liegen Glassplitter auf und unter den Fensterbrettern. Die Aussicht aus den verschmierten Fenstern steht im krassen Gegensatz zu der Leere und Hässlichkeit im Inneren. Ich atme auf, als wir dort nur durchgeführt werden und uns oben in den ersten Stock begeben, durch einen Gang durch, mit vielen Türen, die meisten offen, wir sehen viele kleine Kinder neugierig oder auch schüchtern zu uns schauen, Menschen am Boden hockend essen, Frauen mit Kopftuch füttern ihre Babies, manche winken uns, manche schauen nur, ich frage mich „darf ich überhaupt schauen? darf ich sehen, dass sie keine Möbel haben, dass die Tapeten im katastrophalen Zustand sind, dass es hier alles ganz arm aussieht und was mache ich mit dem, was ich sehe?“
Auf der riesigen Steinterrasse angekommen, atme ich abermals auf – da ist er wieder, ein vertrauter Anhaltspunkt: die Aussicht, die Weite, der perfekte Sommertag, die Sonne scheint und wir sind auf 1500Meter Höhe… Nur: wir sind kein Wanderausflug – was passiert jetzt?
Zu Beginn sind es fast nur wir und drei, vier Menschen von dort, vor allem ältere Kinder, die sich im Kreis hinstellen und Kennenlern– und Miteinanderwarmwerden-Spiele machen – wir klatschen Rhythmen, wir summen, und – besonders lustig, wir lernen in gemischten Paaren ein wenig die Sprache der Anderen kennen. Wir sagen in unseren jeweiligen Muttersprachen (auch wir haben sehr viele verschiedene und für einander fremde mitgebracht) was unsere Lieblingsfarbe und unsere Leibspeisen sind. Wir lachen, inzwischen sind immer mehr kleine Kinder auf der Terrasse, manche im Kreis, tanzend und lallend und lachend, viele am Arm, die bisschen älteren und mutigeren sind auch schon Teil des Kreises, und fassen auch schon unsere Hände. Im schattigen Eck der Terrasse haben inzwischen drei junge Mütter mit ihren kleinsten Babies Platz genommen und schauen zu. Sie werden nicht mitmachen, aber sie werden bleiben, und manchmal werden sie ihren Männern die Babies reichen, damit sie auch im Kreis mit dabei sind.
Ein ganz besonderer Moment findet gleich am Anfang der Treffens auf der Terrasse statt – ein ganz junger, übers ganze Gesicht strahlender Mann kommt mit einem ganz kleinen Baby im Arm auf uns zu und stellt jedem von uns seinen sechs Wochen alten Sohn vor, einem der NAIP Lehrer legt er den Jungen in den Arm – der Säugling ist wach und schaut mit seinen dunklen Augen sehr aufmerksam in unsere gerührten Gesichter. Das alles fühlt sich nicht fremd an. Und wenn uns nicht andauernd die sprachliche Verwirrtheit und Begrenztheit der Kommunikation an die ganz besondere Situation erinnern würde, würde es uns einfach an ein Besuch der Großverwandschaft erinnern, zwischen fremd und vertraut, zwischen schüchtern und herzlich, zwischen Freude und Neugier, zwischen lachen und schauen, agieren und reagieren… Mensch sein. Miteinander.
Mitmachen tun hier auf der Terrasse vor allem die Männer, aber im Laufe der Zeit kommen auch junge Mädchen dazu, sichtbar hin- und hergerissen zwischen noch kindlicher Neugier und vielleicht pubertätsbedingter Schüchternheit die ihnen im Weg ist? Aber gemeinsam schaffen sie den Anschluss, wir werden uns später fragen, ob die Mädchen hier im Gegensatz zu den Buben nicht in die Schule gehen? Ist das in Österreich möglich? Trifft die Flüchtlingskinder die gleiche Schulpflicht wie alle anderen in Österreich lebenden Kinder? Wie ist es mit Bildungsrecht für Mädchen und Frauen in Afghanistan? Die Jungs werden uns erzählt haben, nach einigen Monaten hier in Österreich bereits in fast fliessendem Deutsch, dass sie in der Schule zwar nette LehrerInnen haben aber dass die Kinder sie nicht mitspielen lassen beim Fußball in der Pause und schlecht über ihre Familien und ihre Mütter sprechen und dass sie sich nicht wohlfühlen in der Schule. Und sie sagen uns, dass sie am liebsten Schule wechseln wollen, weil die Kinder, die sie in den letzten Tagen im NAIP-Seniorenheim+Volkschule-Projekt kennengelernt haben, viel netter zu ihnen waren. Ja, denken wir, hier musste niemand niemanden ausschließen, hier ging es um Einbindung und Teilwerden vom Ganzen, aber hier war auch für ausreichende Betreuung und Begleitung von Erwachsenen gesorgt, es gab schon im Vorfeld einige Vorbereitungs- und Aufklärungsarbeit und alle kamen freiwillig zusammen. Und gingen nach dem Projekt in ihr „normales“ Leben zurück. Wie nachhaltig wird die in den gemeinsamen Stunden gefühlte Freundlichkeit und Verbindung sein? Wie gehts weiter nach dem Projekt, im „echten“ Leben der Senioren, der Kinder im Dorf, der Flüchtlingskinder am Berg, dann, wenn alle Studierenden und Lehrende lange den Ort verlassen haben werden?
Spielen
Oben auf der Terrasse spielen wir nach den vielen Aufwärmspielen – und es ist inzwischen wirklich wirklich warm geworden, im Herzen und auf der Haut, spielen wir für einander – erst die Studierenden ihre mitgebrachten Volksweisen auf der Geige, Bratsche, einer der Lehrer improvisiert mit dem Cello dazu, wir singen immer wieder, suchen spontan gemeisnam nach einfachen Liedern, am liebsten mit Bewegung dazu, wir werden stets fündig, haben viele Ideen, Klassiker wie „Aram-sam-sam, a-ram-sam-sam, gulli-gulli-gulli-gulli-gulli-ramsamsam“ gehen auch hier ganz wunderbar gemeinsam. Wir stimmen auch in einen afrikanischen Gesang ein, ein Lied zum Friedensaufruf, wie uns der Lehrende, der uns das Lied beibringt, und offenbar sehr viel in der Welt mit Musik unterwegs ist, erzählt. Es ist sehr gut, dass wir die Studentin mit den farsi Kenntnissen dabei haben – auf diese Weise verstehen wir einander, wenn wir wollen, ganz genau. Das ganz genaue ist aber gar nicht oft nötig oder wichtig, der ganze Nachmittag wird immer schwungvoller, lockerer, natürlicher. Inzwischen haben sich etwa 20 Menschen aus dem Heim auf der „Sommerfrische“-Terrasse eingefunden, auch ein etwas älterer Mann – hier sind alle sehr jung, wir erfahren, dass hier etwa 60 Menschen seit etwa einem Jahr untergebracht sind, die meisten sehr junge Familien. Der ältere Mann fühlt sich sichtbar inspiriert vom Friedenslied und sagt auf englisch, dass er uns auch etwas vorsingen möchte, etwas aus seiner Heimat, ein Lied über das Schreckliche von Angst, Mistrauen und Grenzen, zugleich ein Sehnsuchtslied, wie wir erfahren, das die Schönheit menschlicher Freundschaft besingt.
Das Lied, die starke Stimme des Mannes, der Moment dort auf der Terrasse am Berg, die Vermischung der Menschen und der Gefühle – es haut uns fast um. Es ist ein Geschenk, dieser Moment und wir alle die dort sind spüren das – miteinander, uns an den Händen haltend.
Dieses Lied nehmen wir mit zurück ins Gebäude, in den noch vor kurzem so schäbigen Aufenthaltraum unten, hier werden nun im Handumdrehen einige Instrumente aufgebaut und wir sind inzwischen soviele Menschen, dass der Raum in kürzester Zeit bis an den Rand gefühlt ist – und ja, die Mütter mit den Säuglingen haben auch hier Platz genommen und bedecken mit ihren langen Kleidern die löchrigen Bezüge. Die Glassplitter schieben wir unter die Heizkörper, alle packen ihre Instrumente aus und wir improvisieren miteinander, ein Lehrender übernimmt den Lead, verteilt Instrumente, Einsätze, gibt Handzeichen, spielt mit, demonstriert Spielmöglichkeiten – alles, derweil die Gruppe, die große Gruppe, spielt, tönt, klingt, probiert… es werden mehrere Lieder, der Höhepunkt ist aber das Lied des Mannes, ich will fast schreiben des Dorfältesten. Ich weiß kaum etwas über das Dorf, aber was hier spürbar wird, ist mehr als Wissen. Es ist Herzlichkeit, Sehnsucht und Gemeinschaft, mit der man diese Sehnsucht für einen Moment möglicherweise besser er-trägt oder vielleicht auch nur „trägt“. Wir lehren dort nicht, wir hinterfragen jetzt nicht, wir tönen hier miteinander, wir stimmen in etwas ein, was wir alle gemeinsam schaffen, in dem Moment. Und es ist viel und unsere Herzen gehen fast über.
Von 60 Bewohnern sind 40 im Raum, jemand bringt für uns Besucher warmen Tee und Kekse rein.
Danach verabschieden wir uns – wohl für immer – für mich war es nur ein Tag, für viele nur ein Projekt, aber warum „nur“? Ich nehme soviel mit, es ist soviel mit mir geteilt worden – ihre Babies, ihre Lieder, ihr Tee. Was teilen wir?
Magdalena Bork